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Neue Gentechnik: Gefahr für Land- und Lebensmittelwirtschaft

Autorenbild: BiO ReporterInBiO ReporterIn

Die gentechnikfreie Land- und Lebensmittelwirtschaft hat eine bemerkenswerte Größe in Deutschland und Europa erreicht. Allein der deutsche Markt für Lebensmittel ohne Gentechnik verbucht aktuell rund 17 Milliarden Euro. Dazu kommt der für 2024 ermittelte Umsatz für die per definitionem gentechnikfreie Bio-Lebensmittel von ebenfalls 17 Milliarden Euro. Gefahr droht vonseiten der EU, die seit nunmehr mehr als 18 Monaten um eine gemeinsame Position der EU-Mitgliedsstaaten zur Neuen Gentechnik (NGT) bei Pflanzen ringen. Am 7.3.2025 appellierten Vertreter*innen der Lebensmittelwirtschaft erneut mit einem offenen Brief an die europäischen Agrarminister, die Deregulierungspläne an die Bedürfnisse der Land- und Lebensmittelwirtschaft anzupassen. Am 14.3.2025 könnte in der EU eine Entscheidung fallen.

Übergabe des offenen Briefes an Minister Cem Özdemir

Lucas Rehn Alnatura (Mitte mit Min. Cem Özdemir) übergab den offenen Brief im Alnatura Markt in Stuttgart-Zuffenhausen an Minister Özdemir. Weitere Personen bei der Übergabe: Kerstin Erbe, dm, Sönke Guttenberg, VLOG, Arlend Huober, HuoberBrezel und Hr. Arzt, Es sei ein wichtiges Zeichen, wenn so viele Unternehmen aktiv dafür einsetzen, Verbraucherinnen und Verbrauchern auch in Zukunft eine bewusste Entscheidung für Produkte ohne Gentechnik zu ermöglichen, erklärte Özdemir. Foto: Marc Doradzillo


Minister Özdemir sagte weiter: „Ich bin überzeugt, wer gentechnikfrei wirtschaften möchte, muss dies auch weiterhin tun können – ohne zusätzliche Hürden. Dafür sind im Umgang mit neuen genomischen Techniken neben dem Vorsorgeprinzip drei Punkte zentral: Koexistenz, Transparenz und Wahlfreiheit, und zwar in allen Stufen. Auch die Frage der Patentierbarkeit muss gelöst werden. Auf EU-Ebene ist es bislang nicht gelungen, zum Umgang mit NGT einen akzeptablen Interessenausgleich zwischen Verbraucherseite, Landwirtschaft sowie Verarbeitung und Handel herzustellen. Auch der jüngste Vorstoß der polnischen Ratspräsidentschaft enthält keine ausreichenden Verbesserungen zu den zentralen Themen Koexistenz, Transparenz, Wahlfreiheit und der Patentierbarkeit.

"Ich setze im weiteren Verfahren nach wie vor auf eine Klärung der offenen Fragen und Nachbesserungen für eine faire, praktikable und gesellschaftlich akzeptierte Regulierung von Pflanzen, die mithilfe der neuen genomischen Techniken erzeugt wurden – und die gleichzeitig weiterhin die Forschungsfreiheit gewährleistet. Dafür werden wir uns in Brüssel auch in den nächsten Wochen und Monaten einsetzen.“  Cem Özdemir
Übergabe in Stuttgart, Foto: Marc Doradzillo
Übergabe in Stuttgart, Foto: Marc Doradzillo

Stellvertretend für die Unternehmensinitiative übergab Lucas Rehn, Mitglied der Alnatura Geschäftsleitung, den von 376 Unternehmen der Lebensmittelwirtschaft aus 16 EU-Ländern unterstützten Brief in einem Alnatura Markt in Stuttgart-Zuffenhausen an Minister Özdemir. Die Unterzeichner*innen fordern neben der Pflicht zur Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit auch EU-weit verbindliche, national und regional angepasste Koexistenz-Maßnahmen, Haftungsregeln gemäß dem Verursacherprinzip, einen Entschädigungsfonds für unvermeidbare Kontaminationen sowie die Verpflichtung für Gentechnik-Firmen, bei Markteinführung von Pflanzen aus neuer Gentechnik (NGT) auch Nachweismethoden dafür bereitstellen zu müssen. Der Brief, der am 3.9.2024 bereits an den damaligen ungarischen Ratsvorsitzenden für Landwirtschaft István Nagy übergeben worden war, erlangt noch einmal höchste Aktualität, da die derzeitige polnische Ratspräsidentschaft wider Erwarten eine Entscheidung forciert – bei einer Sitzung am 14.3.2025 könnte sich der EU-Agrarrat auf eine von den Polen vorgeschlagenen Position festlegen. Damit wäre der Weg frei für die finalen Verhandlungen zwischen den Mitgliedsländern (Rat), EU-Kommission und Europäischem Parlament (Trilog) für ein neues Gentechnikgesetz. Gesetzgebungsverfahren.



Wahlfreiheit und fairer Wettbewerb im europäischen Lebensmittelhandel

Nach der Briefübergabe an Özdemir in Stuttgart, schilderten Vertreter*innen der Unternehmen Alnatura, Alb-Gold, dm und Huober dem Bundesminister die Konsequenzen einer Deregulierung des EU-Gentechnikrechts für ihre Unternehmen ganz konkret und erläuterten ihm ihre politischen Forderungen bei Rundgängen im Alnatura-Markt und im dm-Markt. Kerstin Erbe, Geschäftsführerin für Produktmanagement und Nachhaltigkeit bei dm-drogerie markt: „Es geht uns bei dm um nicht mehr und nicht weniger als Transparenz und Wahlfreiheit, darum, dass mit einer verpflichtenden Kennzeichnung aller gentechnisch veränderter Lebensmittel – auch neuer Gentechnik – den Bürgerinnen und Bürgern ein bewusster Konsum eines für alle zugänglichen Sortiments von Bio-Lebensmitteln möglich ist.“


Alnatura Gründer Götz Rehn stellte klar: „Im Bio-Landbau ist der Einsatz von Gentechnik gesetzlich verboten. Das muss auch für die sogenannte neue Gentechnik in Zukunft gelten. Für eine Koexistenz und den fairen Wettbewerb zwischen den verschiedenen Konzepten ist es wesentlich, dass die Kundinnen und Kunden den Unterschied zuverlässig durch eine verpflichtende Kennzeichnung erkennen. Den Einsatz der neuen Gentechnik in der biologischen Landwirtschaft lehnen wir konsequent ab.“

 

Arlend Huober, Geschäftsführer von Huober Brezel, betonte: „Wo Gentechnik drin ist, muss Gentechnik ausgelobt werden. Dies muss auch in Zukunft so bleiben. Die Kundschaft hat ein Recht auf Transparenz und Entscheidungsfreiheit. Nachweispflicht, Rückverfolgbarkeit und Haftungsfragen müssen verbindlich und unmissverständlich beim Verursacher verortet werden. Es kann nicht sein, dass Unternehmen, die im Sinne einer nachhaltigen Lebensmittelwirtschaft ökologische Lebensmittel herstellen, durch das neue Gesetzesvorhaben benachteiligt werden.“ Die Unternehmen appellierten an Minister Özdemir, seinen Einfluss geltend zu machen, um notwendige Punkte zu ergänzen und sich dann auf politischer Ebene im Ministerrat auf eine gemeinsame Position zu verständigen.


Die drastische Deregulierung ist wahrscheinlich

Martin Häusling, Mitglied im Agrar- , Gesundheits- sowie im Umweltausschuss ist der Verhandlungsführer der grünen Fraktion im Europäischen Parlament zur Neuen Gentechnik lehnt die Deregulierung der Neuen Gentechnik ab, befürchtet aber, dass

„Der Dammbruch bei der Deregulierung der Neuen Gentechnik auf EU-Ebene steht vor der Tür. Die polnische Position wird höchstwahrscheinlich eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten hinter sich vereinen. Diese sieht eine drastische Deregulierung der Neuen Gentechnik vor. Das Einknicken Gentechnik-skeptischer Mitgliedsstaaten wie Polen im Rat ist fatal. Im sich abzeichnenden Trilog ist es essenziell, wenigstens Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit, die in der Position des EU-Parlaments beschlossen wurden, in den Verhandlungen zu verteidigen und diese in die finale Gesetzgebung zu übernehmen".

Martin Häusling (vorne rechts) bei einer Veranstaltung zur Gentechnik-Deregulierung im EU-Parlament.
Martin Häusling (vorne rechts) bei einer Veranstaltung zur Gentechnik-Deregulierung im EU-Parlament.

‚Augen zu und durch‘ statt nach dem Vorsorgeprinzip

Martin Häusling betont, dass die angeblichen ‚Nachhaltigkeitsgründe‘, die von Deregulierungs-Befürwortern ins Feld geführt werden, insbesondere, dass die Gentechnik-Pflanzen weniger Pestizide bräuchten und auch im Klimawandel Ertrag bringen, bloßes Wunschdenken sind, wie von der Schweizer Ethikkommission bestätigt. Die geplante Deregulierung der Neuen Gentechnik wäre aus seiner Sicht ein großer Fehler und läuft dem Vorsorgeprinzip zuwider. Nach den Vorschlägen soll gentechnisch verändertes Saatgut ohne ernstzunehmende Risiko- und Sicherheitsprüfungen auf europäischen Feldern angebaut werden können, gentechnisch veränderte Pflanzen ohne Prüfung und Kennzeichnung verarbeitet und vermarktet werden können. Für die Lebensmittelwirtschaft wäre das eine extreme Belastung - sie müsste die Kosten für Sicherheitsprüfung und Haftungsrisiken für die ‚Neuartigen Lebensmittel‘ (Novel Food) tragen - die Biotechnologie-Firmen hingegen wären fein raus, so Häusling.

"Profiteure einer Gentechnik-Deregulierung sind die Biotechkonzerne - sie setzen darauf, dass sie über Lizenz- (also ‚Nutzungs-) gebühren beim Anbau der Gentechnik-Sorten ordentlich Kasse machen. Dafür müssen sie ihre Gentechnik-Sorten patentieren lassen - und das werden sie auch, denn das ist das Geschäftsmodell bei Gentechnik-Pflanzen. Auf der Strecke bleiben dann Saatgutzüchter, die diese Gebühren nicht entrichten können, Ergebnis: eine weitere Machtkonzentration des Saatgutsektors, weniger regional angepasste Sorten, weniger Vielfalt." Martin Häusling 

Hinweis auf der Webseite von Martin Häusling: Die Kosten für die Zulassung eines neuen Lebensmittels nach der Novel Food Verordnung (Verordnung (EU) 2015/2283) können abhängig von mehreren Faktoren stark variieren. Eine grobe Schätzung für die Zulassungskosten liegt zwischen 100.000 und 500.000 Euro.Die Haftungskosten für einen Lebensmittelunternehmer, der ein neuartiges Lebensmittel ohne korrekte Zulassung nach der Novel Food-Verordnung (EU) 2015/2283 auf den Markt bringt, können erheblich sein. Diese Kosten setzen sich aus Bußgeldern, Rückrufkosten, Schadensersatzforderungen und Imageverlust zusammen. In einigen EU-Ländern können Strafen in Höhe von 100.000 bis 500.000 Euro verhängt werden, insbesondere wenn die Sicherheit der Verbraucher gefährdet ist. (Eigene Recherche. Quellen: Europäische Novel Food-Verordnung (EU) 2015/2283:

Fallstudien und Branchenberichte)



Autorin: Karin Heinze

Quellen: VLOG Pressemeldung, Website Martin Häusling

 
 
 

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