Lebensmittelunternehmen von REWE Group bis Rapunzel Naturkost haben im Rahmen der Lebensmittelmesse Anuga zusammen mit dem Verband Lebensmittel ohne Gentechnik (VLOG) und der Assoziation ökologischer Lebensmittelhersteller (AöL) an die Politik in Berlin und Brüssel appelliert, die bisherige vollständige Gentechnik-Kennzeichnung zu beizubehalten. Sie erteilen damit dem aktuellen Plan der EU-Kommission eine deutliche Absage, einen Großteil künftiger Gentechnik-Lebensmittel nicht mehr zu kennzeichnen und sie keiner Risikoprüfung mehr zu unterziehen. Auf einer Veranstaltung auf der Anuga legte die Gentechnik-Expertin Heike Moldenhauer (ENGA, Brüssel) das ganze Ausmaß der Deregulierungspläne dar und dass aufgrund des Zeitplans der EU dringender und schneller Handlungsbedarf besteht.
Alexander Hissting, Geschäftsführer Verband Lebensmittel ohne Gentechnik (VLOG) begrüßte zur Veranstaltung auf der Anuga.
Foto: Karin Heinze, BiO Reporter International
Forderung nach Kennzeichnung quer durch die Hersteller- und Handelslandschaft
Die Unternehmen und Verbände sowohl der ökologischen als auch der traditionellen Lebensmittelwirtschaft werden den Erhalt der vollständigen Gentechnik-Kennzeichnung ab sofort gemeinsam noch nachdrücklicher öffentlich sowie gegenüber Politik und Regierung thematisieren, hieß bei einer Veranstaltung im Rahmen der Anuga. Heike Moldenhauer von der European Non-GMO Industry Association (ENGA) stellte fest: „Eine klare und vollständige Gentechnik-Kennzeichnung ist ein Muss für Verbraucher:innen und Wirtschaft. Für die europäische Lebensmittelwirtschaft ist Gentechnikfreiheit ein Erfolgsmodell, gleichermaßen für konventionelle und Bio-Produkte“. Das bestätigte Wolfgang Ahammer, Geschäftsführer bei VFI Oils for Life und Vorstand der Assoziation ökologischer Lebensmittelhersteller (AöL): „Für uns als Hersteller, die sich für Lebensmittel ,Ohne Gentechnik‘ und Bio-Lebensmittel engagieren, ist es wichtig, dass dieser Status durch eine konturierte Zulassungspraxis und durch Einhaltung wichtiger marktwirtschaftlicher Prinzipien wie Transparenz, Beweislast des Anwendenden und Produkthaftung gesichert wird.“
Deutliche Absage an die Deregulierung
„Es ist aus Sicht der REWE Group auch im Bereich der neuen gentechnischen Verfahren erforderlich, unter Verwendung dieser Techniken hergestellte Produkte einem Zulassungsverfahren einschließlich einer Risikoprüfung zu unterwerfen und die Prinzipien Rückverfolgbarkeit, Vorsorge und Kennzeichnung weiterhin zu berücksichtigen.“
Daniela Büchel, Vorstandsmitglied der REWE Group
„Die von der EU-Kommission geplante Lockerung des EU-Gentechnik-Gesetzes ist für uns als Hersteller von biologischen Lebensmitteln völlig inakzeptabel. Rapunzel Naturkost - wie alle Bio-Lebensmittelhersteller - lebt davon, den Kunden beste Bio-Lebensmittelqualität ohne Gentechnik zu bieten.Wir fordern deshalb die Regulierung und Kennzeichnung der Neuen Gentechnik (NGT) im Essen sowie ihre Rückverfolgbarkeit durch die gesamte Lieferkette.“
Eva Kiene, Leiterin der Unternehmenskommunikation bei Rapunzel Naturkost
Das Siegel 'Ohne Gentechnik' hat sich neben dem Biosiegel im deutschen Handel etabliert - beide Siegel garantieren Gentechnikfreiheit.
NGTs bekommen ein eigenes Gesetz: Willkür und das Ende der Transparenz
Heike Moldenhauer (ENGA) stellte die kritischen Details der Deregulierungspläne der EU-Kommission, den aktuellen Stand des Gesetzgebungsverfahrens und den Zeitplan vor. Die Richtlinie 2001/18/EG zur „alten Gentechnik“ bleibt als Gesetz (lex generalis) unverändert. Die neuen genetischen Techniken NGTs (gezielte Mutagenese, z.B. CRISPR Cas und Cisgenese) sind als GVO definiert (gentechnisch veränderte Organismen) und sollen in einer eigenen Verordnung (lex specialis) geregelt werden. Die Kommission plant also zwei verschiedene Gesetzgebungen für Gentechnik.
94% der NGT-Pflanzen fallen in Kategorie 1 - adäquat zu „normalen“ Pflanzen
Innerhalb der NGTs soll es zwei Kategorien geben: Kategorie 1 NGTs gelten als äquivalent zu Pflanzen aus konventioneller Züchtung, wenn sie bis zu 20 genetische Veränderungen enthalten. Heike Moldenhauer betonte, dass die Zahl 20 rein willkürlich ist und ihre Aufnahme in den Entwurf nicht begründet werden kann. Durch 1 - 20 Veränderungen können ganz große Teile des Genoms betroffen sein, weil kleinste Teile der DNA auch gelöscht werden können. „Wir werden es mit komplexen genetischen Veränderungen zu tun haben“, so Moldenhauer. Eine Risikobewertung soll nicht mehr stattfinden, Nachweisverfahren, Rückverfolgbarkeit und Koexistenzregeln (Vorsorgeprinzip) werden abgeschafft. Auch die Kennzeichnung beschränkt sich ausschließlich auf das Saatgut - es werde als NGT Kategorie 1 plus Identifikationsnummer gekennzeichnet. Bedeutet: nur Züchter und Landwirte wissen, womit sie es zu tun haben, alle nachfolgenden Stufen in der Wertschöpfungskette bleiben unwissend. Auch die verbleibenden 6% gentechnisch veränderter Pflanzen sollen nur noch eingeschränkte Risiko- und Sicherheitsprüfungen durchlaufen.
„Die gentechnikfreie Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion in der EU steht auf dem Spiel. Für alle NGTs soll, nach dem Willen der Kommission gelten, dass Mitgliedstaaten sie nicht verbieten dürfen.“
Heike Moldenhauer, ENGA
Heike Moldenhauer, ENGA erläuterte die Details zu den Deregulierungsplänen der EU. (Foto: Karin Heinze)
Deregulierung soll durchgepeitscht werden
Die Spanische Ratspräsidentschaft drückt aufs Tempo und will das Thema in ihrer Amtszeit bis Ende des Jahres durchdrücken. Der Zeitplan ist ambitioniert:
Das EU-Parlament, mit den Ausschüssen Umwelt (ENVI) und Landwirtschaft (AGRi) plant folgende Termine:
Bis Ende November soll über den Berichtsentwurf der schwedischen Europaabgeordneten und Berichterstatterin Polfjärd diskutiert werden
Die Deadline für Änderungsanträge ist bereits eine Woche später am 6.12. angesetzt
Abstimmung im ENVI am 24.1. 2024
Abstimmung im Plenum im Februar 2024
Parallel will der Agrarrat bis Ende des Jahres zu einer gemeinsamen Position kommen.
Laut Heike Moldenhauer ergeben sich nach der Abstimmung zwei Optionen: Ein Stopp des Gesetzgebungsverfahrens oder der Versuch den Prozess bis Ende April - vor den Europa-Wahlen abzuschließen. Sollte es zu einer qualifizierten Mehrheit für die Deregulierung, heißt eine neue Gentechnikgesetzgebung kommen, halten Experten ein juristisches Verfahren für aussichtsreich, zumal der Europäische Gerichtshof bereits festgestellt hat, dass es sich bei NGT um Gentechnik handelt und dass entsprechende Maßnahmen sowie die Kennzeichnung daraus folgen.
„Es ist zentral, dass in Bezug auf NGTs das Verursacherprinzip, Haftung der Produzierenden und die zugehörige Transparenz gesichert wird, um die Funktionalität in der Marktwirtschaft und Koexistenz verschiedener Produktionsformen zu gewährleisten.“
Brunhard Kehl, Assoziation ökologischer Lebensmittelhersteller (AöL)
Brunhard Kehl, Assoziation ökologischer Lebensmittelhersteller (AöL). (Foto: Karin Heinze)
Nachhaltigkeit - ein leeres Versprechen
Als schlagendes Argument führt die Kommission die angebliche Nachhaltigkeit der NGT-Produkte an. Die Saatgutkonzerne und Gentec-Befürworter versprechen, dass Pflanzenzüchtung mit NGTs klimaangepasste Pflanzen hervorbringen kann und den Verlust der Biodiversität aufhält - Beweise dafür liefern sie aber nicht. Aus Sicht vieler Experten und Wissenschaftler sind das leere Versprechen und nicht nachweisbar. Ein Nachweis für die Nachhaltigkeit der Produkte aus NGTs wird im Anmeldeverfahren in den geplanten neuen Regelungen auch garnicht gefragt.
"Die EU-Kommission schickt sich an, nachhaltige Unternehmenswerte in enormem Umfang zu vernichten und das Vertrauen der Verbraucher:innen in Politik und Lebensmittelwirtschaft zu erschüttern. Dazu darf es nicht kommen!“
Alexander Hissting, Verband Lebensmittel ohne Gentechnik (VLOG)
Auch große Player der Lebensmittelwirtschaft wie die REWE Group haben sich gegen die Deregulierung ausgesprochen.
Foto: Karin Heinze, BiO Reporter International
„Die Öko-Lebensmittelwirtschaft ist nachweislich das innovativste Konzept für eine zukunftsfähige Ernährungswirtschaft. Um die Entscheidungsfreiheit und das Vertrauen der Menschen tatsächlich zu sichern, ist es für uns wesentlich, dass neue genomische Techniken auch als Gentechnik gekennzeichnet werden.
Arlend Huober, Mitgeschäftsführer bei Huober Brezel:
Autorin: Karin Heinze, BiO Reporter International
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