Schon in wenigen Wochen soll in Brüssel weitere Male über die Gentechnik-Deregulierung abgestimmt werden, am 24.1.2024 im Umweltausschuss und Anfang Februar im EU-Parlament. Nachdem im Dezember bei der Abstimmung der Agrarminister keine Mehrheit zustande kam und es bereits Initiativen von Wissenschaftlern, Verbänden und dem Lebensmittelhandel gab, richten sich jetzt führende Unternehmen der deutschen Lebensmittelwirtschaft (bio und konventionell) in einem Offenen Brief an Manfred Weber, den stellvertretenden Vorsitzenden der CSU und Fraktionsvorsitzenden der konservative EVP-Fraktion im Europaparlament. Der EVP kommt eine Schlüsselrolle zu: Deren Berichterstatterin Jessica Polfjärd hat einen Entwurf eingebracht, der Gentechnik sogar noch stärker deregulieren will als die EU-Kommission. Der Erstunterzeichner des Offenen Briefes werben um weitere Unterstützer, denn es stehen Transparenz und Wahlfreiheit für Lebensmittel, die Koexistenz der Anbausysteme und ein fairer Wettbewerb auf dem Spiel.
Führende deutsche Lebensmittelunternehmen appellieren an EVP-Fraktionsvorsitzenden Weber (Foto EVPFraktion) den Entwurf zur Deregulierung grundlegend zu überarbeiten.
EVP muss ihrer Verantwortung gerecht werden
Unter Federführung von ENGA (Europäischer Verband ohne Gentechnik) und VLOG (Verband Lebensmittel Ohne Gentechnik) wurde im Rahmen einer Pressekonferenz heute die Initiative Offener Brief der Unternehmen Alb-Gold, Alnatura, Andechser, dm und Frosta vorgestellt. Erneut wurden die prekäre Lage für alle Unternehmen, die Bio-Lebensmittel und Lebensmittel ohne Gentechnik erzeugen und herstellen, und die verheerenden Auswirkungen dargestellt, sollte die aktuelle Position des EU-Agrarausschusses beim Trilog und der anschließenden Abstimmung eine Mehrheit erhalten.
Jan Plagge, Präsident von Bioland und IFOAM EU erläuterte die Situation: „Die Vorschläge der EVP-Berichterstatterin Jessica Polfjärd verhindern Koexistenz und Wahlfreiheit. In der Praxis kann ein Nebeneinander von Landwirtschaft mit und ohne Gentechnik nur funktionieren, wenn es auch für alle so genannten neuen gentechnischen Verfahren eine Kennzeichnungspflicht gibt – und zwar bis zum Endprodukt, dem Lebensmittel. Die aktuelle Position des EU-Agrarausschusses sieht allerdings gar keine Kennzeichnungspflicht mehr vor, nicht einmal für Saatgut, und auch keinerlei Koexistenzregeln für Anbauformen mit und ohne Gentechnik. Hier muss vor allem die EVP, also die CDU/CSU, ihrer Verantwortung gerecht werden und im EU-Parlament dringend nachbessern.“ Die aktuelle belgische Ratspräsidentschaft hat dem "Projekt Deregulierung" hohe Priorität eingeräumt und will im ersten Quartal des Jahres eine Entscheidung herbeiführen.
Manfred Weber gibt sich volksnah und unterstützt die aktuellen Bauernproteste. Ihm sollte klar sein, dass vieler dieser Bauern der Gentechnik sehr skeptisch gegenüberstehen. (Quelle: x Twitter)
Eiltempo der EU kann dem Thema nicht gerecht werden
Das rasante Tempo mit dem ein neues Gesetz zur Deregulierung der Neuen Gentechnik auf EU-Ebene durchgeschoben wird, lässt Sorgfalt, Verantwortung und das gebotene Vorsorgeprinzip vermissen. Ein Gesetzesvorhaben, in dem Maßstäbe für die Ausgestaltung der Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion in der EU gesetzt werden, dürfe nicht im Eiltempo abgehandelt werden, sagt Martin Häusling, agrarpolitischer Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament, Mitglied im Umwelt- und Gesundheitsausschuss und Verhandlungsführer für die Grünen im Europäischen Parlament. Er kommentiert:
„Die Eile mit der zurzeit auf EU-Ebene ein Vorschlag der EU-Kommission zur Herausnahme neuer gentechnischer Verfahren aus dem Gentechnikrecht abgehandelt wird ist der Relevanz des Themas völlig unangemessen und grob fahrlässig. Am 24. November hat im Europäischen Parlament das erste Arbeitstreffen im Kreise des Verhandlungsteams stattgefunden, nächste Woche soll der Sack dann schon zugemacht werden und die Position am 24.1. zur Abstimmung gebracht werden im zuständigen Umweltausschuss. Knapp sieben Wochen - inklusive der Weihnachtspause - können dem Thema nicht gerecht werden, dafür ist es viel zu komplex, technisch und vielschichtig." Zudem gehe die Berichterstatterin der EVP Jessica Polfjärd wenig bis gar nicht auf die Bedenken anderer Fraktionen ein.
Video-Mitschnitt mit Beiträgen von Heike Moldenhauer (ENGA), Götz Rehn (Alnatura) und Jan Plagge (Bioland, IFOAM EU)
Deregulierung widerspricht Grundsätzen einer verantwortungsvollen Politik
Alnatura-Gründer Prof. Dr. Götz E. Rehn betonte: „Eine weitgehende Deregulierung des Gentechnikrechts widerspricht den Grundsätzen einer ausbalancierten und verantwortungsvollen Politik, sowohl für die Verbraucherschaft als auch für die Natur. Über 90 Prozent der Kundinnen und Kunden fordern eine umfassende Sicherheitsprüfung für gentechnisch veränderte Pflanzen und die verpflichtende Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel. Die Anwendung von Gentechnik bei Lebensmitteln muss zwingend deklariert werden. Nur so ist beim Lebensmitteleinkauf ,Wahlfreiheit durch Transparenz‘ möglich. Die EVP will die neue Gentechnik sogar für Bio-Lebensmittel zulassen. Das ist zu Recht gemäß EU-Bio-Verordnung verboten und das lehnen wir konsequent ab.“
Screenshot Online-Pressekonferenz (Karin Heinze)
Felix Ahlers, Vorstandsvorsitzender der FRoSTA AG machte deutlich, dass es auch um fairen und lebendigen Wettbewerb geht, Unternehmen sich durch Qualität differenzieren müssen. „FRoSTA steht seit über 20 Jahren für maximale Transparenz. Jeder sollte nachvollziehen können, ob ein Lebensmittel mit oder ohne Gentechnik produziert wurde, um sich entsprechend entscheiden zu können. Nur dann können sich auch Lebensmittelhersteller und Landwirte differenzieren. Eine vom Gesetzgeber vorgegebene, transparente Deklaration auf der Verpackung wäre der richtige Weg.“
Auch dm-Drogeriemarkt positioniert sich eindeutig gegen die Gentechnik-Deregulierung. Kerstin Erbe, dm : „Bei dm ist es uns wichtig, dass uns Menschen weiterhin die freie Wahl überlassen bleibt, ob wir gentechnisch veränderte Nahrungsmittel produzieren und konsumieren wollen. Es geht um unsere Ernährung, um das, was wir unseren Körpern täglich zuführen. Auch wenn gentechnische Verfahren heute präziser sind als früher, verbleiben zu beachtende und zu bewältigende Risiken. Dafür brauchen wir eine klare Kennzeichnung als Entscheidungsgrundlage.“
Es steht viel auf dem Spiel
Setzt sich die EVP durch, so werden in Zukunft mehr als 90 Prozent an Saatgut, Pflanzen und Erzeugnissen, die mit neuer Gentechnik erzeugt wurde, ohne Risikoprüfung, Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeitsmöglichkeit auf den Markt kommen, warnt Martin Häusling. Damit würden die gentechnikfreie Landwirtschaft und der Handel torpediert, den Verbraucher:innen die Wahlfreiheit genommen, gentechnikfrei einzukaufen und zu konsumieren. Von den potentiellen Risiken auf Ökosysteme und Gesundheit ganz zu schweigen. Dass der Vorschlag gegen das Vorsorgeprinzip verstößt und rechtlich fragwürdig ist, haben verschiedene Gutachten dargestellt. Deshalb gelte es, in den nächsten Tagen und Wochen auf allen Ebenen gegen diese Deregulierung anzugehen, so Häusling.
Der Verband Lebensmittel ohne Gentechnik (VLOG), Deutschlands führender Ökoanbauverband Bioland, die Assoziation ökologischer Lebensmittelhersteller (AöL) und der Bundesverband Naturkost Naturwaren (BNN) unterstützen die Unternehmen bei ihrer Initiative für Wahlfreiheit bei Gentechnik im Essen. Weitere Unternehmen sind herzlich eingeladen, die Initiative zu unterstützen und den offenen Brief mitzuzeichnen unter ohnegentechnik.org/unternehmen-fuer-wahlfreiheit
Die Erstunterzeichner:innen des offenen Briefes sind
Felix Ahlers, Vorstandsvorsitzender, FRoSTA AG
Kerstin Erbe, Geschäftsführerin Ressort Produktmanagement, dm-drogerie markt GmbH + Co. KG
Irmgard Freidler, Geschäftsführerin, ALB-GOLD Teigwaren GmbH
Prof. Dr. Götz E. Rehn, Gründer und Geschäftsführer, Alnatura Produktions- und Handels GmbH
Barbara Scheitz, Geschäftsführerin, Andechser Molkerei Scheitz GmbH
Autorin: Karin Heinze, BiO Reporter International
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