Die Ukraine - ein EU-Beitrittskandidat im Krieg, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Zu Status Quo, Perspektiven und Problemen diskutierten in einem Online-Talk Format Europaabgeordneter und agrarpolitischer Sprecher der EU-Grünen Martin Häusling sowie Viola von Cramon, MdEP der Grünen und stellvertretende Vorsitzende der Delegation im Parlamentarischen Assoziationsausschuss EU-Ukraine als Moderatorin, mit Gästen aus Wissenschaft und Politik über die aktuelle Situation in der Ukraine diskutiert. Ihre Expertise brachten ein: Dr. Olga Trofimtseva, Sonderbeauftragte im Bereich Ernährungssicherheit und Wirtschaftsdiplomatie, Außenministerium der Ukraine; ehemalige Ministerin für Agrarpolitik und Ernährung der Ukraine, Dr. agr. Bettina Rudloff, Stiftung Wissenschaft und Politik, forscht zu Handels- und Investitionspolitik, Resilienz und kritischer Infrastruktur sowie Prof. Dr. Sebastian Lakner, Professor für Agrarökonomie an der Universität Rostock.
Screenshot des Startbildes des Films "Farming Organic in Ukraine"
Ukraine - Agrarland mit Kandidatenstatus zum EU-Beitritt
Die Landwirtschaftsfläche der Ukraine ist rund zweieinhalbmal so groß wie in Deutschland. Vor Beginn des Krieges, 2020 waren in der Ukraine sind es 6,4 Millionen Menschen in der Landwirtschaft beschäftigt, in Deutschland sind es rund 0,6 Millionen Menschen und es geben täglich Höfe auf. Die Ukraine bekundet seit den 1990er Jahren ihr Interesse an einem EU-Beitritt und am 28. Februar 2022, vier Tage nach Beginn des russisches Angriffskriegs, stellt Präsident Selenskyj den offiziellen Antrag für sein Land. Den offiziellen Kandidatenstatus zum EU-Beitritt erhält die Ukraine am 23. Juni 2022.
Das wirft in Bezug auf einen möglichen EU-Beitritt der Ukraine insbesondere folgende agrarpolitische Fragen auf:
Welche Auswirkungen sind bei dem Beitritt der Ukraine auf die EU-Agrarpolitik zu erwarten?
Sind die gesetzlichen Regelungen der EU für den Beitrittskandidaten umsetzbar?
Kann ein Agrar-Modell bzw. das derzeitige mit hektarbasierten Direktzahlungen allen Mitgliedstaaten gerecht werden?
Aufzeichung auf Youtube wurde zur Verfügung gestellt vom Büro Martin Häusling.
Martin Häusling bedauerte in seinen einführenden Worten, dass die Solidarität der EU-Mitgliedsstaaten bröckelt und manche Staaten dem Land, das abhängig von Exporten ist, mit Einfuhrsperren und Sonderzöllen das Leben schwer machten. Er appellierte, die EU müsse sich möglichst schnell darauf einigen, die Exporte aus der Ukraine wieder zu ermöglichen, denn der Einzige, der sich über eine Spaltung der EU freue, sei Putin. Was den möglichen EU-Beitritt der Ukraine betrifft, sei in Bezug auf die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) die spätestens dann die längst überfällige Reform (Abschaffung) der Flächenprämien fällig, weil sie aufgrund der schieren Größe des Agrarlandes unmöglich seien.
Bio-Exportwachstum trotz Krieg
Olga Trofimtseva (Bild) beschrieb die Lage der Landwirtschaft in ihrem Heimatland als erstaunlich resilient aber sehr ernst. Zum einen befinde sich auch die Landwirtschaft im permanenten Überlebensmodus, über 120 Bauern haben bereits bei ihrer Arbeit ihr Leben verloren und es sei ein Schaden von rund 40 Milliarden Dollar entstanden. Auf der anderen Seite seien die Exporteinnahmen von 44% Vorkriegsniveau sogar noch gestiegen, da der Agrarsektor quasi der einzig verbliebene produzierende Sektor sei. Trofimtseva verwies auf einen Artikel von Peter Jossi, veröffentlicht in BioPress (https://www.linkedin.com/posts/olga-trofimtseva-26013132_bio-ukraine-mutig-und-innovativ-activity-7054768433225195521-86xs?utm_source=share&utm_medium=member_desktop) Dort heißt es: „Laut einer Analyse der ukrainischen Zertifizierungsstelle ‚Organic Standard‘, basierend auf Zahlen der EU-Datenbank TRACES, exportierte die Ukraine trotz Rückgang der Flächen um 25%, im Jahr 2022 fast 226.000 Tonnen Bioprodukte in die EU und die Schweiz. Das war ein Anstieg um 13 % im Vergleich zu 2021.“ Trofimtseva betonte, sie halte einen Beitritt ihres Landes bis 2030 realistisch, wenn man jetzt ganz konkret mit den Vorbereitungen beginne.
Auf der BioFach wurde die Veranstaltung ‚Ukraine – Ein Jahr nach Kriegsbeginn – Innovationskraft ökologischer Betriebe‘ von EEPO und COA (Deutsch-Ukrainische Kooperation Ökolandbau) organisiert. COA präsentierte als Erstaufführung den Film ‚Ukraine 2023: Organic Agriculture one Year after Beginning of the War. We go ahead!‘ der auf beeindruckende Weise die wichtigsten Aspekte des Lebens und der Arbeit der vielfältigen Bio-Betriebe in der Ukraine im Jahr 2022 zeigt.
Geostrategisches Effekte eines EU-Beitritts
Dr. agr. Bettina Rudloff von der Stiftung Wissenschaft und Politik, forscht zu Handels- und Investitionspolitik, Resilienz und kritischer Infrastruktur. Sie stellte in der Veranstaltung die globale Dimension eines EU-Beitritts der Ukraine dar:
> Die EU werde zum weltweit dominanten Lieferanten für Getreide und Ölsaaten > es entstehe Einfluss auf dem Weltmarkt gegenüber großen Agrarnachfragern wie China und gegenüber eher
Viola von Cramon, MdEP Moderation interventionistischen Akteuren wie Argentinien > Die Ukraine sei ein starker Unterstützungsakteur gegenüber Ländern mit
Versorgungsbedarf
Interne Dimension:
> Beitrag zur eigenen Versorgungsabsicherung, wie aktuell zur stärkeren Importunabhängigkeit anvisiert
> Wohlfahrtseffekte durch Absatz- und Investitionsoptionen in der Ukraine
aber auch steigender interner Wettbewerbsdruck
> Haushalts- und Agrarreformoptionen müssen vorbereitet werden wie bereits bei Osterweiterung 2004 (Optionen wie phasing in Direktzahlungen etc)
Prof. Dr. Sebastian Lakner, Professor für Agrarökonomie an der Universität Rostock (Bild) konkretisierte Vorbereitungen für einen Ukraine Beitritt:
> Mögliche Etablierung Zollunion (WTO?)
> Übertragung des Kontrollsystems (INVEKOS) > Aufbau von Zahlstellen (Direktzahlungen, aber mit welchem Ziel? Probleme?)
> Anpassung der Umweltgesetzgebung, Cross-Compliance, Lebensmittelrecht, Food Safety Standards
> Aufbau der Förderlinien Agrarumweltmaßnahmen, Ökolandbau, Ländliche Entwicklung?
Finanziellen Folgen für den Agrarhaushalt?
Deutschland - Ukraine: Lange, intensive Zusammenarbeit
Bereits während der Veranstaltung „Sourcing Organic from Ukraine“ im Oktober 2016 im Ökohaus in Frankfurt sprach Olga Trofimtseva, damals neue Vize-Ministerin im Ukrainischen Landwirtschaftsministerium, darüber, dass sie sich besonders für den Ausbau des Öko-Landbaus und des Exports engagieren will, aber auch für die Veredlung von Rohware und die Weiterentwicklung des Binnenmarktes.
Interview mit Olga Trofimtseva im Oktober 2016, Interview Karin Heinze, BiO Reporter International (vormals Bio-Markt.info)
Autorin: Karin Heinze, BiO Reporter International
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